Hallo du wundervolle Seele,
dies ist ein besonderer Beitrag: Ich schreibe ihn nämlich nicht allein und er wird nach und nach wachsen. Zusammen mit Tom von den neulandrebellen möchte ich mich über das Thema Narzissmus austauschen. Das Ganze wird eine Briefform erhalten: ich starte heute den Austausch, Tom antwortet in seinem Blog, ich wieder hier und so weiter. Ich freue mich riesig, wenn du uns in den Kommentaren an deinen Gedanken zum Geschriebenen teilhaben lässt!
Lieber Tom,
da war es wieder: das böse N-Wort – „Narzissmus“. Eine Bekannte von mir kann einfach nicht aufhören, überall in ihrem Dunstkreis Narzissten zu sehen – und ich muss gestehen: Ich störe mich an diesem dauerhaften Pathologisieren. Kaum ist mal jemand nicht ganz auf der Höhe, wird ihm Narzissmus unterstellt. Ich finde das problematisch:
- Es relativiert den Narzissmus: Wird jeder, der mir nicht in den Kram passt, als Narzisst beschimpft, übersehen wir die Menschen, die tatsächlich Narzissten sind – und verhöhnen ihre Opfer.
- Opfer-Täter-Denken: Allein, dass ich gerade das Wort „Opfer“ verwenden musste, zeigt, dass wir mit der ständigen Verurteilung von Menschen als „Narzisst“ im Opfer-Täter-Denken gefangen bleiben. Der Narzisst ist eindeutig der Täter, alle, die ihm in die Finger kommen, die Opfer.
Versteh mich bitte nicht falsch: Narzissten hinterlassen tatsächlich oft emotional verwüstete Felder, es ist schlimm, Opfer eines Narzissten zu sein – wie du weißt, spreche ich da durchaus aus leidlicher Erfahrung. Doch was, wenn eben nicht jeder, der mir nicht in den Kram passt, und nicht jeder, der sich mal ungerecht verhält (machen wir doch alle mal!), Narzisst ist? Dann stülpen wir uns selbst und anderen die Maske „Täter“ und „Opfer“ über – und die passt nicht mal. Verurteilungen helfen doch ohnehin nicht weiter, oder? Denn …
Die Maske und die Leere: Narzissmus als energetische Abspaltung vom wahren Selbst
Vergessen wir doch eines nicht: Wenn jemand tatsächlich Narzisst ist – und zwar in pathologischer Ausprägung – so ist dies die Folge eines Traumas. Irgendetwas im Leben des Narzissten hat eine tiefe Seelenwunde hinterlassen und der Betroffene muss in der Folge eine Maske aufsetzen – eine Art Ersatzkonstrukt des Egos.
Nein, ich schlage mich keinesfalls auf die Seite von Narzissten, wahrlich nicht. Ich möchte beide Seiten betrachten – und zwar differenziert ohne emotional draufzuhauen.
Energetischer Vampirismus: Warum narzisstische Beziehungen unsere Lebenskraft leeren
Narzissten leben von der Energie ihrer „Opfer“. Egal, wie man einem Narzissten gegenübertritt, ob wir wütend werden, gekränkt, verletzt oder wie auch immer reagieren: von genau diesen Emotionen, von dieser emotionalen Energie ernähren sie sich. Es entsteht ein gefährlicher Kreislauf: Wir versuchen, dem Narzissten zu gefallen, es ihm rechtzumachen, dafür zu sorgen, dass er uns nicht wieder klein hält. Doch genau von diesem Widerstand, von diesem Versuchen, von dieser Sorge ernährt sich der traumatisierte Narzisst. Nicht aus böser Absicht, sondern weil der nicht anders kann – er ist kein schlechter Mensch.
Oder wie siehst du das? Du erzähltest mir jüngst, dass du ähnliche Erfahrungen mit dem ständigen Pathologisieren gemacht hast, dass dir das auch schon aufgefallen sei. Ich freue mich, wenn du in deiner Antwort näher darauf eingehen kannst.







Comments
Frau Müller
Liebe Emmie! Danke, für diese ausgewogene Einleitung zum Narzissmus. Irgendwann fiel es mir auch auf, dass der Narzissmus Begriff inflationär benutzt wird. Tatsächlich sieht man sehr häufig Menschen mit narzisstischen Zügen – mal weniger, mal kräftiger ausgeprägt. Einen Menschen, den ich als Vollnarzisten bezeichnen würde, kann Gefühle anderer erkennen, aber nicht mitfühlen und sie prima zu seinen eigenen Gunsten benutzen. Dann gibt es noch den Hardcore Narzissten, den so genannten malignen Narzissten. Diese Personen sind nicht nur „grandios“ und empathielos, sondern auch: sadistisch (sie genießen die Erniedrigung anderer), paranoid (sie projizieren ihre eigene Bosheit auf andere), extrem rachsüchtig und aggressiv, gewalttätig (physisch und/oder psychisch). Mit so jemanden möchte man keine Probleme haben. Narzissmus ist also ein recht großes Thema und ein wenig, bis eventuell ein wenig mehr Narzissmus, steckt wohl in jedem, nicht erleuchteten, von uns. 😉
Das Ursächliche, für einen ausgeprägten Narzissmus ist allerdings sehr vielseitig und reicht von Trauma, Überbehütung und Vergötterung als Kind, emotionale Vernachlässigung und Kälte, Liebe und Anerkennung der Eltern ist an Bedingungen geknüpft, bis dass das Kind als Verlängerung der eigenen Person gesehen wird und die unerfüllten Träume und Ambitionen der Eltern leben muss. Obenauf noch das Gesellschaftliche und natürlich auch genetische Voraussetzungen. Es ist also beinahe kaum möglich, diesem Sog zum Narzissmus zu entrinnen – gerade in einer Gesellschaft, wo jeder etwas ganz besonderes zu sein hat. Dass jeder von Geburt an besonders ist, ist leider einfach nicht besonders genug. Also wird der Mensch so lange verzogen, bis er nicht mehr da ist. Von daher sehe ich Narzissmus als ein Ersatz der tatsächlichen Persönlichkeit. Das bedeutet natürlich auch, dass dieser Zustand auflösbar ist, wenn man sich selbst wieder findet. Meine Frage zu dem Thema lautet somit: Wie schaffen wir es, dass sich die Menschen wieder finden – ein Ende der großen Selbstentfremdung?
Emmie
Liebe Frau Müller, herzLichten Dank für deinen Kommentar. Du beschreibst die Unterschiede zwischen Menschen, die inflationär als Narzissten beschrieben werden, und malignen Narzissten sehr präzise und differenziert – so sehe ich es auch: man möchte mit ihnen nichts zu tun haben. Und doch kann man ihnen irgendwo auch mit Verständnis (nicht für ihre Taten, sondern für ihre Maske aufgrund eigener Themen) begegnen.
Das ist eine sehr gute Frage, die wir unbedingt noch in unserem Briefwechsel aufgreifen werden. In aller Kürze möchte ich sagen: Das Wiederfinden beginnt wohl mit der Einsicht in die Leere (oft durch eine Krise erzwungen) und setzt sich fort durch eine langwierige, schmerzhafte (psycho-)therapeutische Arbeit, die darauf abzielt, die Scham, die dem Narzissten oft innewohnt, zu tolerieren und ein authentisches, fehlerhaftes (denn das sind wir doch alle), aber stabiles Selbst zu entwickeln, das nicht mehr auf die Abwertung anderer zur eigenen Aufwertung angewiesen ist. Es ist ein Weg, der enorme Mut und die Bereitschaft zum Leiden erfordert.
Ich bin jedoch auch überzeugt, dass diejenigen, die Narzissten begegnet sind, gestärkt werden dürfen; dass JEDER also ein Ende der großen Selbstentfremdung erleben darf. Denn: bliebe jeder Mensch bei sich, wüsste jeder um seinen Wert, hätten Narzissten keine Menschen um sich, die unter ihnen leiden könnten. Ihre Versuche, Energie von Mitmenschen zu ziehen mit den Mitteln, die du nennst, würden verpuffen – und es bestünde wohl eher die Möglichkeit zum Erkennen und zur Einsicht; der Prozess könnte beginnen.